WG205 – zwei Briefentwürfe und ein Fragment einer Briefreinschrift an Alma Mahler
Berlin, Sonntag, 24. oder Montag, 25. September 1911
[Briefentwurf I]
sieh, ich möchte Dich
so lieben, wie Du es
verdienst u ich glaube
es zu können, wenn Du
offene Herzquellen hast,
denn dann sehe ich
mich immer in einem
Spiegel u erkenne
alle schlechten Triebe
an meiner Seele
___
Nun muß ich das Gefühl
haben, Dich dieses \der Teilnahme an / \Ehren/Festes
beraubt zu haben. Hättest
Du mir das Bittere
doch nicht angethan
\Wolltest Du mich jetzt demütigen/
Ich weiß nicht mehr
was Recht ist
Was fehlt Dir, besitze
ich keine Heilkraft mehr.
Wenn ich Unrecht tat, bitte ich
Dich um Verzeihung
4 Okt. Beethovensaal
[!]
[Briefentwurf II]
Ach, was soll ich nur denken? Bist
Du wirklich krank und wenn – hast
Du kein erklärendes Wort für mich.
Habe ich Dich denn gekränkt? und
wollte doch nichts, als Dir meine \ganze wahnsinnige/
Liebe zeigen. \Denn/ Eine fixe Idee \Gefühl von Unrecht/
das ich aus Deinem Benehmen gegen
mich \in T.[oblach] erkannte/ entnahm und die \das/ Du durch
ein\en/ \äußeren/ Zufälliges Mißverständnis \den du nicht wissen konntest u. darum
verstandest Du wol nicht/
sich zur fixen Ideen \ge/steigerte \hatte/, ließ
\wäre Dein Brief einen Tag/
mich jenen Brief schreiben. Gott weiß
\was ich daran litt u./ was es mich gekostet hat, mich frei-
willig Deines Anblicks zu berauben.
\Ist das denn nicht unbegreiflich???/
Ich konnte es nicht ertragen, daß
Du mich nur halb liebtest, daß ich
Dir aufdringlich erschienen sein könnte,
daß ich Dich gequält hätte \haben könnte während/wo ich \immer/ im
Glauben war nur größte
Liebe zu betätigen. Was schreibst
Du alles in Deinem Brief, ob ich
mich \auch nicht/ verschwende, ob ich Dich alleine
lassen wollte in der Welt \während ich nichts denke als Dich/? Kannst
Du das wirklich einen Augenblick
geglaubt haben
Es war alles so einfach \und verständlich/, wenn wir
mit einander reden konnten – schreiben
läßt sich so etwas nicht.
Ist es Dir noch unbegreiflich? Mir scheint als hätte ein böser Dämon
ohne außer uns uns schrecken wollen.
[Fragment einer Briefreinschrift]
wolle in der Welt? Hast Du das
wirklich einen Augenblick geglaubt,
während ich nichts denke, als
Dich??? – Was fehlt Dir jetzt?
besitze ich keine Heilkraft mehr?
oder wolltest Du mich jetzt de-
mütigen?? Wo ich Unrecht tat,
bitte ich um Verzeihung – aber ich
weiß nicht mehr, was Recht ist.
Mich deucht, ein böser Dämon
außer uns hat uns schrecken
wollen. Könnte ich eine Stunde
mit Dir reden, so wäre alles
wieder sonnenklar, so einfach und
verständlich waren die Gedanken
dieser Tage; schreiben kann ich
das nicht.
Apparat
Überlieferung
, , , , , .
Quellenbeschreibung
3 Bl. (4 b. S.) – Briefentwurf I: Notizblock, Bleistift und Tinte ( und ); Briefentwurf II und Fragment einer Briefreinschrift: unbedrucktes Briefpapier, Tinte (, ).
Druck
Erstveröffentlichung.
Korrespondenzstellen
Antwort auf AM111 vom 19. September 1911 (verschwende Dich nicht in einem Anfall von Ungeduld): Was schreibst Du […], ob ich mich \auch nicht/ verschwende und AM112 vom 24. September 1911 (bin krank kann nicht kommen): Alma was soll ich nur denken? Bist Du wirklich krank. Beantwortet durch AM114 vom 29. September 1911 (Eines kränkt mich – Du hast wirklich geglaubt, dass ich eine Lüge depes[c]hirte?): Bist Du wirklich krank und wenn – hast Du kein erklärendes Wort für mich.
Datierung
WG reagierte mit WG205 offensichtlich auf AMs Telegramm AM112 vom 24. September 1911, in dem sie ihm mitteilte, nicht nach Berlin zu reisen. Da WG in für seine Begriffe recht ungehaltenem Ton Zweifel und Ärger formulierte, ist anzunehmen, dass diese Blätter kurz nach Eintreffen des Telegramms entstanden, wobei auch eine Datierung auf den Tag darauf in Frage kommt. Da WG wenig später, am (frühestens) 26. September, WG208 mit durchaus anderem Tenor verfasste, ist eine Datierung nach dem 25. September 1911 unwahrscheinlich.
Übertragung/Mitarbeit
(Elisabeth Behnle)
Briefentwurf I – Der erste Absatz dieses Blattes, der Satz was fehlt Dir, besitze ich keine Heilkraft mehr sowie die Notizen auf der Verso-Seite wurden in Bleistift, der Rest in Tinte verfasst.
offene Herzquellen – s. AM108 vom wahrscheinlich 14. September 1911: dass es mir nun bitter leid thut – nicht immer so offene Herzquellen zu haben.
Gustavs/ \Ehren/Festes – s. AM103 vom 28. August 1911: Fried’sche Aufführung.
Nun muß ich […] Recht ist – in Tinte.
besitze ich keine Heilkraft mehr – Genau diese Formulierung findet sich auch im letzten Blatt wieder () und erlaubt eine Zuordnung dieses Entwurfsblattes zur späteren Reinschrift in Tinte. Der Absatz Nun muß ich […] was Recht auf dem ersten Blatt () wurde dabei, ebenso wie der letzte Satz, ebenfalls in Tinte verfasst.
Wenn […] Verzeihung – in Tinte.
4 Okt. Beethovensaal Nina Jacques-Dalcroze [!] – Kammermusikabend in Berlin mit (Pseudonym Nina Faliero), Sängerin und Ehefrau des Komponisten und Musikpädagogen (, S. 45).
Briefentwurf II – Obwohl in Tinte verfasst, weist dieses Blatt so viele Durchstreichungen, Korrekturen und Einfügungen auf, dass von einem Briefentwurf ausgegangen werden kann.
Dein Brief – AM111 vom 19. September 1911.
jenen Brief – wahrscheinlich aus dem Entwurf WG203 vom 18. September 1911.
Deinem Brief – AM111 vom 19. September 1911.
Mir scheint […] schrecken wollen – Dieser Satz des Briefentwurfs in Tinte findet sich in leicht veränderter Form auch im Fragment der Briefreinschrift: Mich deucht, ein böser Dämon außer uns hat uns schrecken wollen.